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Juni 2025

- Ein ganz besonderer Tag -

Á Primeira Vista

 

Am 18. Juni 1982 sah ich zum ersten Mal den Strand von Odeceixe – und es war wie Liebe auf den ersten Blick. Ich stand hoch oben auf der Steilküste im Süden, ließ meinen Blick über das weite Panorama schweifen. Unter mir schlängelte sich ein Fluss in weitem Bogen zum Meer. Auf der gegenüberliegenden Uferseite zog ein altes Bauernhaus meine Aufmerksamkeit auf sich. Weißer Rauch stieg gemächlich aus dem Schornstein – sicher wurde gerade frisches Brot gebacken. Der Bauer furchte mit zwei mächtigen, hellbraunen Ochsen sein Feld. War er für die schwere Arbeit nicht schon zu alt? In einem Einschnitt des Steilhangs lagen drei Terrassen, von robusten Steinmauern gestützt. Hier lebten junge Leute, Aussteiger wie ich. Auf der untersten Plattform stand ein orangefarbenes Wohnzelt, auf der mittleren ein Tipi aus Pinienstämmen – doch die oberste schien noch unbelegt. Wartete sie etwa auf mich? Ein leises, neugieriges Frohlocken stieg in mir auf.

 

Entlang des Sandwegs, der parallel zur Uferböschung verlief, standen ein gelber Bulli, ein roter Combi und ein kleiner blauer Lastwagen mit offenem Verdeck, beladen mit Holzbalken. Doch von den Menschen keine Spur. Weiter Richtung Meer führte der Weg zu zwei flachen Gebäuden. Ich vermutete, es seien Cafés oder kleine Restaurants. Eines war noch verschlossen, Fenster und Türen mit Platten verrammelt. Beim anderen trugen zwei Männer gemächlich Tische und Stühle auf die Terrasse. Diese Betriebsamkeit zog mich magisch an. Denn die letzten beiden Wochen hatte ich an einem menschenleeren Strand weiter südlich verbracht – dort war mir außer einem einsamen Angler niemand begegnet.

Nun aber lief ich, trotz schwerem Rucksack und sperriger Gitarre, leichtfüßig und voller Vorfreude den Hang hinunter zum Fluss. Wie oft ich ihn wohl seit jenem Tag durchquert habe! Mal glich er wie an diesem Junitag einem Rinnsal, das ich mühelos durchwaten konnte. Im Winter hingegen schwoll er von Zeit zu Zeit zu einem reißenden Strom an, dessen Durchquerung riskant war. Und in manchen Sommern dehnte er sich überraschend breit und tief aus – perfekt für ein Stand-up-Paddling oder ein erfrischendes Bad im eiskalten Wasser.

Die Tische standen nun alle auf der Terrasse, einer davon sogar schon gedeckt. Man begegnete mir mit freundlicher Neugierde. „Komm, iss mit!“, signalisierten die Gesten. Ich verstand, obwohl ich damals kein Wort Portugiesisch sprach. Und es war einfach wunderbar – nach all den Tütensuppen und kargen Mahlzeiten war ich ausgehungert und der Duft des gegrillten Fisches war schlicht verlockend. „Saúde!“, prosteten wir uns mit einem Glas Rotwein zu. In diesem Moment dachte ich wieder an meinen Vater. Es war sein Geburtstag, aber weit und breit gab es kein Telefon, um ihn anzurufen. Damals wurde er 57. Heute, Jahrzehnte später, könnte er seinen 100. Geburtstag feiern. Doch mein Vater ist längst nicht mehr am Leben – ebenso João, der mich damals so herzlich einlud, und António, der die Fische gefangen hatte.

Wie der Fluss unaufhaltsam fließt, rinnt auch die Zeit unermüdlich dahin. Verschwunden sind die Zelte und Tipis, die beiden Strandbars und auch das alte Bauernhaus. Ein paar Freundinnen und Freunde aus diesem verão de alegria – jenem Sommer voller Freude, wie ich ihn gerne nenne – sind geblieben. Wenn ich mein Bild betrachte, das ich 1998 von der nördlichen Steilküste malte, kehrt die Erinnerung an jenen Moment lebendig zurück, als ich mein Herz an einen Ort verlor – und meine Wahlheimat fand.

 

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