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November 2022

-  Venedig bei Nacht  -

Es waren Tage jenseits des Alltäglichen. Wir waren in einen Menschenstrom eingetaucht, der über die Brücken und Plätze, durch Kirchen, Paläste und Museen wogte, sich über schmale Stege drängte und nicht nur vor den Haltestellen der Wassertaxen einen Pulk bildete. Im vielsprachigen Stimmenrauschen wurden wir beide fast sprachlos. „Ganz schön viele Leute“, stöhnte meine Tochter Xira. Ich nickte und rollte die Augen. Kein Wunder. Jeder, den ich kenne, war bereits einmal in Venedig gewesen. Die Stadt schien durch und für den Tourismus zu atmen.

Am letzten Abend fuhr Xira alleine mit dem Boot zu unserer Unterkunft zurück. Ich blieb am Markusplatz, um am Ufer noch ein Bild zu malen und wählte als Motiv die großen, schwarzen Gondeln, die über Nacht dort angebunden lagen. Je dunkler es wurde, desto ruhiger wurde es um mich. Und schon bald wurde es so leise, dass ich nur noch das Plätschern, Glucksen und Schmatzen der seichten Wogen hörte. Sie umspülten wie eh und je die Holzpfähle, die die Lagunenstadt tragen.

Viele Jahre zuvor hatte ich in der Schule mein erstes Geschichtsreferat über Venedig gehalten. Schon damals schien es mir, ich müsste mich beeilen, um diese schöne Stadt noch vor ihrem Untergang zu sehen. Nun beschlich mich vor Ort ein Gefühl, als wäre ich tatsächlich zu spät gekommen. Doch in dieser Nacht leistete mir zum Glück meine Phantasie Gesellschaft: Sie ließ die quirlige Vergangenheit der Stadt für mich noch einmal so erscheinen, wie ich sie mir als Fünfzehnjährige vorgestellt hatte. Ich saß malend in einem Standbild – und Venedig mit all seinen Touristen würde erst am nächsten Morgen wieder zum Leben erwachen.

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